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BGH zum "Kfz-Abgasskandal": Schadensersatz auch bei Thermofenster möglich

von Patrick Redell

Urteile vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, VIa ZR 533/21 und VIa ZR 1031/22

Der vom Präsidium des Bundesgerichtshofs vorübergehend als  Hilfsspruchkörper eingerichtete VIa. Zivilsenat (vgl. Pressemitteilung  Nr. 141/2021 vom 22. Juli 2021) hat am 26. Juni 2023 im Anschluss an die  Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 21.  März 2023 (C-100/21, NJW 2023, 1111) entschieden, unter welchen  Voraussetzungen Käufer von Dieselfahrzeugen in "Dieselverfahren" den  Ersatz eines Differenzschadens vom Fahrzeughersteller verlangen können.

Sachverhalte und bisheriger Prozessverlauf:

In dem Verfahren VIa ZR 335/21 verlangt der Kläger  von der beklagten Volkswagen AG Schadensersatz wegen eines von ihr  hergestellten VW Passat Alltrack 2.0 l TDI, der mit einem Motor der  Baureihe EA 288 ausgerüstet ist. Die EG-Typgenehmigung wurde für die  Schadstoffklasse Euro 6 erteilt. Der Kläger erwarb das im Juli 2016  erstmals zugelassene Fahrzeug am 15. November 2017 von einem Händler.  Die Abgasrückführung erfolgt bei dem Fahrzeug in Abhängigkeit von der  Temperatur (Thermofenster). Ferner ist eine Fahrkurvenerkennung  installiert. Der Kläger verlangt von der Beklagten im Wesentlichen, ihn  im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als habe er den das Fahrzeug  betreffenden Kaufvertrag und einen Finanzierungsvertrag nicht  abgeschlossen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das  Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung des Klägers  zurückgewiesen. Gegen die Zurückweisung der Berufung richtet sich die  vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Klägers.

In dem Verfahren VIa ZR 533/21 kaufte der Kläger im  Mai 2018 von einem Vertragshändler der beklagten Audi AG einen Audi SQ5  Allroad 3.0 TDI, der mit einem Motor der Baureihe EA 896Gen2BiT  ausgerüstet ist. Die EG-Typgenehmigung wurde für die Schadstoffklasse  Euro 6 erteilt. Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) hatte bereits vor  Abschluss des Kaufvertrags bei einer Überprüfung des auch in das  Fahrzeug des Klägers eingebauten Motors eine unzulässige  Abschalteinrichtung in Form einer sogenannten Aufheizstrategie  festgestellt und durch Bescheid vom 1. Dezember 2017 nachträgliche  Nebenbestimmungen für die der Beklagten erteilte EG-Typgenehmigung  angeordnet. Der Kläger verlangt von der Beklagten im Wesentlichen, ihn  im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als habe er den das Fahrzeug  betreffenden Kaufvertrag mit dem Vertragshändler und einen  Finanzierungsvertrag nicht abgeschlossen. Das Landgericht hat die Klage  abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung des  Klägers zurückgewiesen. Gegen die Zurückweisung der Berufung richtet  sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Klägers, mit der  er seine zweitinstanzlichen Anträge weiterverfolgt.

In dem Verfahren VIa ZR 1031/22 kaufte der Kläger im  Oktober 2017 von der beklagten Mercedes-Benz Group AG einen  Mercedes-Benz C 220 d, der mit einem Motor der Baureihe OM 651  ausgerüstet ist. Die EG-Typgenehmigung wurde für die Schadstoffklasse  Euro 6 erteilt. Die Abgasrückführung erfolgt bei dem Fahrzeug unter  anderem temperaturgesteuert und wird beim Unterschreiten einer  Schwellentemperatur reduziert. Weiter verfügt das Fahrzeug über eine  Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, bei der die verzögerte Erwärmung des  Motoröls zu niedrigeren NOx-Emissionen führt. Der Kläger verlangt von  der Beklagten im Wesentlichen, ihn so zu stellen, als habe er den das  Fahrzeug betreffenden Kaufvertrag und einen Finanzierungsvertrag nicht  abgeschlossen. Das Landgericht hat der Klage unter dem Gesichtspunkt  einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung des Klägers überwiegend  stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht  die auf das Recht der unerlaubten Handlung gestützte Klage und darüber  hinaus das auf kaufrechtliche Ansprüche gestützte Begehren des Klägers  abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht unter Verweis auf die Frage, ob  die EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung ein Schutzgesetz im Sinne von §  823 Abs. 2 BGB sei, zugelassenen Revision möchte der Kläger, der nur  noch deliktische Ansprüche geltend macht, die Wiederherstellung des  erstinstanzlichen Urteils erreichen.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der Bundesgerichtshof hat auf die Revisionen der Kläger die  Berufungsurteile in allen drei Verfahren – in der Sache VIa ZR 1031/22  allerdings nicht bezogen auf Ansprüche aus Kaufrecht, die nicht mehr  Gegenstand des Revisionsverfahrens waren - aufgehoben und die Sachen zur  neuen Verhandlung und Entscheidung an die Berufungsgerichte  zurückverwiesen, damit die Berufungsgerichte eine Haftung der beklagten  Fahrzeughersteller aus unerlaubter Handlung weiter aufklären. Dabei hat  der Bundesgerichtshof im Verfahren VIa ZR 335/21 bestätigt, dass die  Tatbestandswirkung der EG-Typgenehmigung einem Anspruch aus §§ 826, 31  BGB gegen den Fahrzeughersteller nicht entgegengehalten werden kann. Im  Verfahren VIa ZR 533/21 hat er die höchstrichterliche Rechtsprechung zu  den Voraussetzungen einer haftungsausschließenden Verhaltensänderung des  Fahrzeugherstellers bekräftigt. Außerdem hat er – ausführlich begründet  im Verfahren VIa ZR 335/21 – für eine Haftung der Fahrzeughersteller  nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV  auf Ersatz des Differenzschadens im Anschluss an das Urteil des EuGH vom  21. März 2023 (C-100/21, NJW 2023, 1111) folgende Grundsätze  aufgestellt:  

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 21. März 2023 aus dem  Gesamtzusammenhang des unionsrechtlichen Regelungsgefüges gefolgert,  dass der Käufer beim Erwerb eines Kraftfahrzeugs, das zur Serie eines  genehmigten Typs gehört und mit einer Übereinstimmungsbescheinigung  versehen ist, vernünftigerweise erwarten kann, dass die Verordnung (EG)  Nr. 715/2007 und insbesondere deren Art. 5 eingehalten ist. Wird er in  diesem Vertrauen enttäuscht, kann er von dem Fahrzeughersteller, der die  Übereinstimmungsbescheinigung ausgegeben hat, Schadensersatz nach  Maßgabe des nationalen Rechts verlangen.

Zu gewähren ist allerdings, wenn der Fahrzeughersteller den Käufer  nicht sittenwidrig vorsätzlich geschädigt hat, in Übereinstimmung mit  der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, die zu ändern der  Bundesgerichtshof keine Veranlassung hat, nicht großer Schadensersatz.  Der Käufer kann auf der Grundlage der § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit  § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV im Falle der Enttäuschung seines auf die  Richtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung gestützten Vertrauens –  anders als bei einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung durch den  Fahrzeughersteller und auf der Grundlage der §§ 826, 31 BGB – nicht  verlangen, dass der Fahrzeughersteller das Fahrzeug übernimmt und den  Kaufpreis abzüglich vom Käufer erlangter Vorteile erstattet. Ein solcher  Anspruch, der im Kern nicht den Vermögensschaden, sondern die freie  Willensentschließung des Käufers schützt, kommt nur bei einem im Sinne  von §§ 826, 31 BGB arglistigen Verhalten des Fahrzeugherstellers in  Betracht. Für § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1  EG-FGV bleibt es bei dem allgemeinen Grundsatz, dass ein  Schadensersatzanspruch nach dem maßgeblichen nationalen Recht eine  Vermögensminderung durch die enttäuschte Vertrauensinvestition bei  Abschluss des Kaufvertrags über das Kraftfahrzeug voraussetzt. Da der  EuGH bei der Ausgestaltung des Schadensersatzanspruchs auf das nationale  Recht verwiesen hat, konnte der Bundesgerichtshof auf die allgemeinen  Grundsätze des deutschen Schadensrechts zurückgreifen, die auch bei  einem fahrlässigen Verstoß gegen das europäische Abgasrecht einen  effektiven und verhältnismäßigen Schadensersatzanspruch gewähren.

Dabei hatte der Bundesgerichtshof davon auszugehen, dass die  jederzeitige Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs Geldwert hat. Deshalb  erleidet der Käufer eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen  Abschalteinrichtung im Sinne des Unionsrechts versehen ist, stets einen  Schaden, weil aufgrund einer drohenden Betriebsbeschränkung oder  Betriebsuntersagung die Verfügbarkeit des Fahrzeugs in Frage steht.  Zugunsten des Käufers greift der Erfahrungssatz, dass er im Falle der  Ausstattung des Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung das  Fahrzeug nicht zu dem vereinbarten Preis gekauft hätte.

Das Vorhandensein der Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2  der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 als solcher muss im Prozess der Käufer  darlegen und beweisen, während die ausnahmsweise Zulässigkeit einer  festgestellten Abschalteinrichtung aufgrund des  Regel-Ausnahme-Verhältnisses in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr.  715/2007 der Fahrzeughersteller darlegen und beweisen muss.

Stellt der Tatrichter das Vorhandensein einer unzulässigen  Abschalteinrichtung fest, muss der Fahrzeughersteller darlegen und  beweisen, dass er bei der Ausgabe der Übereinstimmungsbescheinigung  weder vorsätzlich gehandelt noch fahrlässig verkannt hat, dass das  Kraftfahrzeug den unionsrechtlichen Vorgaben nicht entspricht. Beruft  sich der Fahrzeughersteller zu seiner Entlastung auf einen  unvermeidbaren Verbotsirrtum, gelten dafür die in der  höchstrichterlichen Rechtsprechung allgemein entwickelten Grundsätze.  Kann sich der Fahrzeughersteller von jedem Verschulden entlasten, haftet  er nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1  EG-FGV nicht. Das deutsche Recht der unerlaubten Handlung setzt für eine  deliktische Haftung des Schädigers stets ein Verschulden voraus. Eine  verschuldensunabhängige deliktische Haftung können deutsche Gerichte,  die auch nach den Vorgaben des EuGH im Rahmen des geltenden nationalen  Rechts zu entscheiden haben, nicht anordnen.  

Der dem Käufer zu gewährende Schadensersatz muss nach den Vorgaben  des EuGH einerseits eine effektive Sanktion für die Verletzung des  Unionsrechts durch den Fahrzeughersteller darstellen. Andererseits muss  der zu gewährende Schadensersatz – so die zweite Vorgabe des EuGH – den  Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Dem einzelnen Käufer ist daher  stets und ohne, dass das Vorhandensein eines Schadens als solches  mittels eines Sachverständigengutachtens zu klären wäre oder durch ein  Sachverständigengutachten in Frage gestellt werden könnte, ein  Schadensersatz in Höhe von wenigstens 5% und höchstens 15% des gezahlten  Kaufpreises zu gewähren. Innerhalb dieser Bandbreite obliegt die genaue  Festlegung dem Tatrichter, der sein Schätzungsermessen ausüben kann,  ohne sich vorher sachverständig beraten lassen zu müssen. Auf den vom  Tatrichter geschätzten Betrag muss sich der Käufer Vorteile nach Maßgabe  der Grundsätze anrechnen lassen, die der Bundesgerichtshof für die  Vorteilsausgleichung auf der Grundlage der Gewähr kleinen  Schadensersatzes nach §§ 826, 31 BGB entwickelt hat.

Die Kläger werden in allen Verfahren Gelegenheit haben, ihre Anträge  anzupassen, soweit sie einen Differenzschaden nach diesen Maßgaben  geltend machen wollen. Die Parteien haben nach einer Zurückverweisung  der Sachen Gelegenheit, zu den Voraussetzungen einer Haftung nach § 823  Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ergänzend  vorzutragen.

Quelle: Pressemitteilung, Nr. 100/2023